Hans-Werner Sinn schaut gerne in die Zukunft: Als das Bundesverfassungsgericht seine deutlichen Vorbehalte gegenüber dem geplanten Anleihenkaufprogramm (OMT) der Europäischen Zentralbank äußerte und das juristische Dossier an den Europäischen Gerichtshof weiter leitete, zeigte sich der Chef des Ifo-Instituts erfreut. Die Finanzmärkte würden sich zwar angesichts der Anrufung des Europäischen Gerichtshof freuen. Aber längerfristig werde die Stellungnahme der Verfassungsrichter nicht ohne Folgen bleiben, denn die EZB werde es zumindest vorerst nicht wagen, ihre Anleihenkaufprogramm zu aktivieren und außerdem werde die Bundesregierung nicht länger die aus Sinns Sicht verfehlte Politik der EZB stillschweigend tolerieren. (Hier ist die Stellungnahme von ifo/Sinn im Original.)
Irrungen und Wirrungen
Hätte Sinn recht und wäre das Anleihenankaufprogramm der EZB wirklich tot, müsste nach seiner Analyse an den europäischen Finanzmärkten eigentlich eine schwere Krise ausbrechen. Denn noch Ende Januar hatte Sinn in der „Zeit“ geschrieben: „Seit die EZB die Steuerzahler im Rahmen ihres OMT-Programms gezwungen hat, für die Staatspapiere der Südländer zu haften, sind die Kapitalanleger beruhigt und bereit, den Staaten Südeuropas wieder mehr Geld zu leihen.“
Sinn ist nicht der einzige Ökonom, der die Ruhe an den europäischen Kapitalmärkten in erster Linie mit der EZB verbindet. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Gegenspieler Sinns in öffentlichen Euro-Debatten, fürchtet wegen der Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts eine wirtschaftliche und juristische Spaltung Europas.
Und wie reagieren die Finanzmärkte? Von Panik oder auch nur Beunruhigung ist dort nichts zu sehen. Im Gegenteil: Die Rendite zehnjähriger italienischer Staatsanleihen bewegt sich mit 3,57 Prozent in der Nähe ihres niedrigsten Standes seit acht Jahren. Auch die Renditen für Anleihen aus Spanien und Portugal sind gefallen. Ebenso wenig weisen die Preise für Kreditausfallderivate (CDS) auf Staatsanleihen auf Krisenangst im Euroraum hin. Am Devisenmarkt zeigt sich der Euro mit Kursen um 1,37 Dollar stark und nicht schwach. Auch die Aktienkurse steigen seit einiger Zeit in den südeuropäischen Ländern.
Möglicherweise spielt das umstrittene Anleihenkaufprogramm der EZB, das deren Präsident Mario Draghi im Sommer 2012 in Aussicht stellte, für die Finanzmärkte längst keine große Rolle mehr. „Das OMT-Programm ist praktisch tot“, sagte der Chefökonom der amerikanischen Investmentbank Morgan Stanley, Joachim Fels, schon im Juni 2013 in einem Gespräch mit FAZIT. Das Anleihenkaufprogramm sei nicht mehr länger relevant, weil alleine seine Ankündigung ihren Zweck der Beruhigung der Märkte erfüllt habe, bemerkte dieser Tage Ewald Nowotny, Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank.
Dass die EZB ihrer Ankündigung von Anleihenkäufen Taten folgen lassen müsse, hatten dagegen von Anfang an einige deutsche Ökonomen vermutet. So hatte der frühere EZB-Chefökonom Jürgen Stark im vergangenen Sommer eine schwere Krise für den Spätherbst 2013 in Aussicht gestellt, in deren Verlauf die EZB wohl auch französische Staatsanleihen kaufen müsse: „Ich glaube, die Krise wird sich im Spätherbst zuspitzen. Wir werden in eine neue Phase der Krisenbewältigung eintreten“. Bis heute hat die EZB im Rahmen des OMT-Programms allerdings nicht eine einzige Staatsanleihe gekauft. Dafür sieht jetzt Sinn für Frankreich schwarz: “In Wahrheit wird uns die französische Krise als nächstes beschäftigen.” Honi soit qui mal y pense.
Noch in einer weiteren Hinsicht folgen die Finanzmärkte nicht den Schlussfolgerungen mancher Ökonomen. Sinn verurteilt oft die Umverteilungswirkungen der EZB-Politik, in deren Rahmen die Steuerzahler im Norden für die Sünder im Süden einstehen müssten. Der Münchener Ökonom spricht in diesem Fall von einer Umverteilung von den „Gutgläubigen zu den Cleveren“. Folgte man dieser Logik, wären zwar die niedrigen Renditen für Anleihen in Südeuropa erklärbar, aber die Risiken für die Steuerzahler im Norden müssten sich in Gestalt steigender Risikoprämien für Staatsanleihen besonders aus Deutschland niederschlagen.
Der beste Maßstab für die Messung dieser Risikoprämien sind die Preise für Kreditausfallderivate (CDS) auf Staatsanleihen. Er zeigt, dass die Preise für CDS auf deutsche Bundesanleihen in den Krisenjahren 2011 und 2012 deutlich gestiegen sind, mit der Beruhigung der Eurokrise aber auch wieder deutlich zurückgegangen sind. Von einer speziellen „Bestrafung“ Deutschlands kann an den Märkten keine Rede sein; im Gegenteil liegen die CDS-Preise für Bundesanleihen sogar unter den CDS-Preisen für Staatsanleihen aus Ländern wie der Schweiz, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten – alles Länder, die nicht den Euro haben.
Im Grunde erkennt man hier einen fundamentalen Unterschied in der Wahrnehmung: Sinn hat gedanklich die Eurozone längst geteilt und sieht unterschiedliche Interessen in Nord und Süd. Die Preise an den Finanzmärkten belegen, dass man dort Nord und Süd in einem Boot sitzen sieht: Gehen die CDS-Preise im Süden hoch, steigen sie auch im Norden (wenn auch weniger stark). Sinken die CDS-Preise im Süden, sinken sie auch im Norden.
Sind Finanzmärkte ineffizient und ihre Teilnehmer durchgeknallt?
Wie sind diese erheblichen Auffassungsunterschiede zwischen manchen (keineswegs allen!) Ökonomen und Märkten erklärbar?
1. Keine Seite besitzt wichtige Informationsvorsprünge, die ihr ein spezielles Wissen garantierten, denn die relevanten Wirtschaftsdaten über die europäischen Länder sind für jedermann verfügbar. Das ist ein Grund, warum der Einfluss der Ratingagenturen auf die Wahrnehmung europäischer Länder an den Märkten zurückgegangen ist. Akademische Ökonomen und Finanzmarktteilnehmer tauschen zudem Wissen aus. So ist unter deutschen Euro-Skeptikern eine nicht mehr ganz taufrische Studie der Investmentbank Goldman Sachs über die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Staaten verbreitet. Umgekehrt schauen sich große Banken und Fonds, in denen häufig Ökonomen mit Doktorhüten aus Elite-Universitäten beschäftigt sind, auch auf Erkenntnisse aus der akademischen Welt. Kurz und gut: Die Vorstellung, dass Finanzmärkte Informationen langsamer verarbeiten als akademische Ökonomen, ist wenig plausibel, um es vorsichtig zu sagen.
2. Gelegentlich meinen Ökonomen, Teilnehmer an Finanzmärkten seien wegen der lockeren Geldpolitik in einer Art Drogenrausch. Man könnte hier zum einen konkret einwenden, dass die Bilanzsumme der EZB seit ihrem Hoch im Sommer 2012 um rund 800 Milliarden Euro zurückgegangen ist, weil Banken Kredite zurückgezahlt haben – sprich: weil sie, um in dem verbreiteten Bild zu bleiben, Drogen an den Dealer zurückgegeben haben. Das tun Süchtige normalerweise nicht. Grundsätzlicher: Teilnehmer an Finanzmärkten sind fraglos keine Maschinen, sondern unterliegen Stimmungen, die hin und wieder zu einem Verhalten führen mögen, das man als „Herdentrieb“ bezeichnen mag. Aber die These, dass sich Marktteilnehmer über einen langen Zeitraum irrational verhalten und lernunfähig sind, müsste im konkreten Fall erst einmal belegt werden und sie ist vor allem dann erstaunlich, wenn sie von Ökonomen vertreten wird, die sich als Marktwirtschaftler bezeichnen. *) Gegen die These des Drogenrauschs spricht auch die Tatsache, dass die Marktteilnehmer durchaus zwischen Peripherieländern zu unterscheiden wissen. So wird Spanien, gemessen an Anleiherenditen und CDS-Preisen, mittlerweile besser bewertet als Italien, was mit den in Spanien größeren Reformfortschritten zusammenhängen dürfte. **)
3. Auch ist die Abhängigkeit von der Politik mit Blick auf die globalen Finanzmärkte nicht ganz leicht zu deuten. Der Zuwachs der Bestände an Staatsanleihen in den Bilanzen von Banken aus der Peripherie ist kein Zufall und fraglos auch das Ergebnis politischer Einflüsse. Die enge Verbindung zwischen Staaten und Banken in Europa ist natürlich in vielerlei Hinsicht problematisch und natürlich vertritt die Finanzbranche in Gestalt politischer Forderungen auch Eigeninteressen. Aber politische Einflüsse würden keinen Hedgefonds aus der angelsächsischen Welt davon abhalten, über die Märkte für Kreditausfallderivate (CDS) noch einmal Spannungen in den europäischen Märkten zu erzeugen, wie es in den Jahren 2011 und 2012 geschehen ist. So gab es noch im Sommer 2012 auf einem Treffen von Hedgefondsmanagern am Mittelmeer Versuche, zu Spekulationen auch gegen Bundesanleihen aufzurufen. Geschehen ist nichts, obgleich der Aufruf von einer englischsprachigen Wirtschaftszeitung öffentlichkeitswirksam verbreitet wurde. Im Vergleich von Ökonomen und Märkten würde der Vorwurf politisch motivierten Verhaltens zudem die Finanzmarktteilnehmer nicht automatisch zu schwarzen und die Ökonomen zu weißen Schafen machen: Es gibt auch Ökonomen mit einer politischen Agenda – und nicht immer tragen Ökonomen ihre Agenda offen mit sich herum.
4. Keinerlei Vorteil für eine der beiden Seiten ergibt sich auch aus einem Vergleich ihrer Kunst, in die Zukunft zu sehen. Die Unfähigkeit von Finanzmärkten, rechtzeitig Krisenherde zu erkennen, ist empirisch gut überprüft und derzeit wieder anhand der scheinbar überraschenden Krise einiger Schwellenländer zu besichtigen. Aber auch die Zunft der Ökonomen ist in den vergangenen Jahren gescholten worden, weil sie die im Jahre 2007 ausgebrochene Finanzkrise überwiegend nicht vorhergesehen hatte.
Fazit: Schlag nach bei Hayek – Märkte sind gar nicht so schlecht
Niemand kennt die Zukunft. Letztlich unterscheiden sich Ökonomen und Finanzmarktteilnehmer oft wenig in ihrer Diagnose der Krise und in ihren Diagnosefehlern. So ist die eminente Bedeutung der volumenstarken grenzüberschreitenden Finanzströme für den Verlust von Wettbewerbsfähigkeit in der Peripherie und für die Fragilität des europäischen Banksystems von den meisten Ökonomen wie von den meisten Finanzmarktteilnehmern zu spät gesehen worden. (Wir hatten das Thema in FAZIT kürzlich hier behandelt.)
Heute sind aus zahlreichen Finanzunternehmen Studien zu lesen, die gerade von Ländern wie Italien und Frankreich dringend Reformen erwarten, um das Wirtschaftswachstum zu steigern. Bedeutende internationale Finanzunternehmen finden auch Gehör in Regierungszentralen, ohne dass dies an die große Glocke gehängt wird.
Am Ende des Tages plagt Sinn die Furcht, es werde in Südeuropa zu bedeutenden Staatspleiten kommen, deren Kosten nicht zuletzt von Deutschland getragen werden müssten. Das ist kein metaphysisches Thema, denn es entzieht sich nicht der ökonomischen Analyse: Aus ökonomischer Sicht hängt die Schuldentragfähigkeit eines Landes davon ab, in welchem Maße künftige Primärüberschüsse im Staatshaushalt erzeugt werden können. Dann hängt die Schuldentragfähigkeit im einzelnen ab unter anderem vom Zins (weil künftige Primärüberschüsse diskontiert werden müssen), vom künftigen Wirtschaftswachstum, der Inflationsrate, der Fähigkeit, Steuereinnahmen zu generieren (ein Land muss wissen, wo es sich auf der Laffer-Kurve befindet) und Staatsausgaben zu kontrollieren. Das heißt: Jedes Land verfügt über wirtschaftspolitische Hebel, um seine Schuldentragfähigkeit langfristig zu beeinflussen.
Kaum bestreitbar erscheint, dass infolge der jüngsten Krise mehrere europäische Staaten zumindest in die Nähe der Grenze ihrer Schuldentragfähigkeit gekommen sein dürften. Aber an dieser Stelle trennen sich die Wege, denn weder Ökonomen noch Finanzmarktteilnehmer besitzen eine Glaskugel. Ökonomen wie Sinn oder auch Ken Rogoff sind mit professoraler Beharrlichkeit der Überzeugung, dass es in der Peripherie jenseits von Griechenland zu weiteren Umschuldungen – in welcher Form auch immer – kommen muss. An den Finanzmärkten würden viele Teilnehmer eine solche Vision speziell für Portugal als durchaus möglich erachten, aber sie sehen diese Frage nach wie vor speziell für Italien und Spanien als ziemlich offen an.
Unterschiedlich ist auch der Grad der unmittelbaren Betroffenheit: Ein Ökonom aus einer staatlichen Universität kann zehnmal Unsinn erzählen, ohne dass ihm dies schaden muss. Aber kein Teilnehmer an den Finanzmärkten kann es sich erlauben, zehnmal auf das falsche Pferd zu setzen. Er verlöre schon viel früher seinen Job. Das zwingt Finanzmarktteilnehmer eigentlich zu besonders sorgfältigen Analysen: Und falls wichtige Teilnehmer an den Finanzmärkten zum Schluss kommen sollten, dass die Reformanstrengungen mancher Länder nicht reichen, werden sie früher oder später darauf reagieren. Der Satz, dass die Krise in Europa derzeit eingedämmt ist, aber nicht überwunden sein muss, ist auch in Finanzkreisen nicht zu überhören. Finanzmärkte sind Märkte und damit als Sammelstellen dezentraler Informationen schwer zu übertreffen, wie der liberale Nobelpreisträger Friedrich von Hayek gelehrt hat. Bei Hayek ließe sich auch etwas über die Anmaßung von Wissen lesen. Die Rolle des apokalyptischen Reiters übernehmen die Finanzmärkte derzeit jedenfalls nicht.
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*) Ein reinrassiger Marktwirtschaftler mit Finanzmarktexpertise ist der Nobelpreisträger Gene Fama. Er käme wohl nie auf die Idee, sich als Wissenschaftler über Marktpreise zu erheben. Während dessen beklagt sich Sinn über einen “Finanzkapitalismus” – was die Frage erlaubt, ob er hier nicht Rudolf Hilferding näher steht als Fama.
**) Eine einprägsame Beschreibung der Entwicklung in Spanien liefert Juergen B. Donges. In FAZIT hatten wir vor einiger Zeit eine mehrteilige Reihe über Spanien gebracht. Nach aktuellen Angaben haben die spanischen Güterexporte im vergangenen Jahr einen langjährigen Höchststand erreicht – die These, in der Peripherie sei der Rückgang der Leistungsbilanzdefizite alleine das Ergebnis fallender Importe, ist zumindest für Spanien und Portugal unhaltbar.
Die Ratingagentur Moody’s hat die Bonität Spaniens am Freitag (21. Februar 2014) um eine Note heraufgesetzt. Damit liegt die Note zwei Stufen über dem Ramschniveau (“Junk”), mit dem Agenturen sehr spekulative Anlagen kennzeichnen. Zudem gibt es laut Moody’s gute Chancen auf eine weitere Verbesserung der Bonität.
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version eines Artikels, der am 20. Februar 2014 im Finanzmarkt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.
von Gerald Braunberger erschienen in Fazit - das Wirtschaftsblog ein Blog von FAZ.NET.